Naiv und dumm. Ängstlich und stolz.

„Wir geben nicht genug Chancen.“

Ich schaue sie an. Schaue, während sie gestikuliert und mit ihren Worten eine völlig neue Welt kreiert. Ich verliere mich in dieser Welt. Ihre ehrlichen Worte bringen plötzlich Szenen mit sich. Szenen aus meinem Leben. Szenen, die traurig sind. Szenen, die mir nicht gefallen, doch ihre Worte sind tranceartig und wie eine Spieluhr, die man von selbst nicht abschalten kann.

„Wir geben gewissen Dingen einfach keine Chance“, sagt sie. „Warum gehen wir noch in fünf weitere Geschäfte, wenn der Pullover im ersten Laden perfekt war?“

Ich weiß es nicht, will ich schreien, aber ich bleibe stumm. Höre zu, während sich die Welt um mich herum immer schneller dreht.

„Warum trennen wir uns so schnell von unserem Partner und geben der Beziehung keine weitere Chance, sich besser zu entwickeln?“

Ich habe ihr mal gesagt, sie sollte Philosophie studieren. Stundenlang könnte sie dann über Gott und die Welt nachdenken, sich mit Dingen beschäftigen, die andere mit einem desinteressierten Schulterzucken aus dem Kopf löschen.

„Warum geben wir so voreilig auf?“

Die Worte bleiben in der Luft hängen. Ich bleibe mit meinen fantasievollen Gedanken hängen.
Warum geben wir so voreilig auf?
Ich denke an Freundschaften, die ich abgebrochen habe, weil ich unzufrieden war.
Ich denke an Beziehungen, die in die Brüche gingen, weil ich unglücklich war. Ich denke an Ziele, die ich nicht mehr angestrebt habe, weil sie mir unerreichbar schienen.
Ich denke an Probleme, die ich nicht angesprochen habe, weil ich zu ängstlich war.
Ja, warum geben wir eigentlich so voreilig auf?

„Weil wir eine Auswahl haben“, überlege ich laut. „Wenn Freundschaften kaputt gehen, geht die Welt nicht unter, weil um uns herum genug andere nette Menschen sind. Wenn Schluss mit dem Partner ist, dann gibt es in der nächsten Ecke vielleicht einen besseren. Wenn Ziele nicht mehr angestrebt werden, dann sucht man sich eben ein anderes. Wenn Probleme zu groß werden, konzentriert man sich einfach auf die kleineren.“

„Aber warum können wir nicht standhaft bleiben?“, kontert sie sofort. „Warum müssen wir immer einen Schlussstrich ziehen? Warum sind wir ständig auf der Suche nach etwas Besserem? Warum handeln wir so egoistisch?“

Weil es leichter ist, denke ich im Stillen. Weil wir manchmal naiv und dumm, ängstlich und stolz sind. Weil es immer einfacher ist, den leichtesten Ausweg zu nehmen.
Und ich denke an mich selbst. An diese Szenen im Kopf.
Ich als naives und dummes, ängstliches und stolzes Mädchen.
Als ich Tschüss sagte und gebrochene Herzen hinterließ. Als ich den Blick nach vorn richtete, ohne mich noch einmal umzudrehen.
Als ich aufgab, ohne eine Chance in Erwägung zu ziehen.
Aber ist Egoismus so falsch?
Meine Handlungen basierten auf meinen Gefühlen. Auf meinen Frust. Auf meine Ansicht. Wenn ich nicht glücklich bin, wie kann ich dann neue Chancen verteilen? Glück kann ich mir nicht aus den Fingern saugen. Glück muss natürlich entstehen und nicht erzwungen werden.
Macht mich das schwach?
Macht mich das egoistisch?
Bin ich auf der Suche nach etwas Besserem?

„Etwas Besseres wird es niemals geben“, sagt sie. „Wir suchen nach Perfektion. Regen uns über die belanglosen Makel eines anderen auf. Aber was ist, wenn der perfekte Mensch in all seinen kleinen Fehlern eigentlich direkt vor uns steht und wir es nie gesehen haben, weil wir dieser Person keine weitere Chance geben wollten sich zu beweisen?“


Keine Lust zu lesen? Dann höre dir den Text als Hörbuch auf YouTube an. 

photo: flickr

5 Gedanken zu “Naiv und dumm. Ängstlich und stolz.

    1. Danke, das freut mich, Jim!
      Ich finde es immer so schön merkwürdig, wie fremde Worte – egal woher oder von wem sie kommen – einen wachrütteln, berühren, nachempfinden oder die Augen nochmal neu öffnen lassen.

      Meine Gesprächspartnerin hatte bei ihren vielen Fragen und Überlegungen gar keine Ahnung, wie sehr sie mich (noch Tage danach) zum Nachdenken und schließlich zum Verfassen dieses Textes brachte.

      Liebe Grüße
      Sam 🙂

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      1. Das hast du auch geschafft, zumindest einen wichtigen Anstoß gegeben, mit dem ich mich auch jetzt noch beschäftige! Danke und lieeebe Grüße,
        Jim

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